Das Zeichen an der Wand
Als Leo an diesem Morgen mit dem Rad zur Schule fuhr, zerrte die noch kühle Luft an seinen Haaren und vertrieb erfolgreich den letzten Schlaf. Mann, war das eine aufregende Woche gewesen. Kein Wunder, dass er erst nach dem dritten Aufweckversuch seiner Großmutter aus dem Bett gekommen war.
Leo trat kräftiger in die Pedale, während er sich vorbei an hupenden Mopeds und duftenden Bäckereien seinen Weg bahnte. Madrid war wie immer laut, bunt und aufregend; da bildete dieser Morgen keine Ausnahme.
Doch Leos Gedanken waren ganz woanders.
Das Konzert neulich Abend …
Er grinste vor sich hin. Rosa de la Vega, die berühmte Flamenco-Gitarristin, hatte gesungen wie der Superstar, der sie war. Als sie mit ihrer wiedergefundenen Gitarre auf der Bühne stand, hatte sogar Leos bester Freund Mateo ganz still gelauscht, und das wollte etwas heißen.
Was für ein Abend. Was für ein Fall.
Die gestohlene Gitarre, das geheimnisvolle Pergament, der seltsame Mann mit den roten Federn. All das fühlte sich mittlerweile an wie ein Traum, dabei war noch nicht mal eine ganze Woche vergangen, seit der Fall erfolgreich gelöst worden war.
Aber es war passiert.
Und sie – Leo, Cami, Mateo und natürlich Pepa, die Churro-liebende Streunerkatze des Barrio Dorado – hatten das Rätsel gelöst. Ganz ohne Hilfe von Erwachsenen.
Na ja, fast. Abuela hatte immerhin regelmäßig Churros-Nachschub geliefert. Das war auch wichtig gewesen, wenn nicht sogar entscheidend.
Leo schmunzelte. Die Erinnerung an Rosas Gesicht, als sie die Nachricht ihres Urgroßvaters gelesen hatte, brannte sich warm in seine Gedanken.
Eine Botschaft, die jahrzehntelang in einer Gitarre geschlummert hatte. Verrückt, oder?
Und dann, nach dem Konzert … war da dieses Graffiti gewesen. Direkt an der Wand neben der Churrería.
Schlagartig wurde Leo ernst.
Es war einfach da gewesen, wie aus dem Nichts. Ein riesiger, silberner Löwenkopf.
Cami hatte sofort ihr Tablet gezückt und angefangen zu recherchieren. Mateo hatte lieber noch einen in Schokolade getunkten Churro gegessen. Und Leo? Leo war das Gefühl nicht losgeworden, dass das Graffiti kein Zufall gewesen war. Dass es etwas zu bedeuten hatte.
Dass es nicht nur ein cooles Wandbild von irgendeinem Sprayer war, der Eindruck schinden wollte.
Nein. Es fühlte sich an wie ein Zeichen.
Er fuhr an einer Bushaltestelle vorbei, wo wie jeden Morgen ein Mann mit einer Ukulele saß und leise Melodien vor sich hinspielte. Leo hob die Hand zum Gruß. Der Gitarrist nickte zurück, ohne mit dem Spielen aufzuhören.
Vielleicht, dachte Leo, sich an das Gespräch nach dem Konzert erinnernd, hat Rosa recht. Vielleicht muss nicht alles immer erklärt werden oder eine Antwort haben.
Aber das war nicht sein Stil. Wenn sich irgendwo ein Rätsel auftat, dann musste er es lösen. So einfach war das.
Er bog in die Calle Romero ein, wo ihn das Kopfsteinpflaster ordentlich durchrüttelte. Die Schule war nicht mehr weit. Noch eine Ampel, dann der Pausenhof, dann Mathe.
Urks.
Vermutlich hatten sie es hier mit einem neuen Fall zu tun. Aber erst mal musste er Señor Fernández erklären, warum sein Hausaufgabenheft jetzt ein Wasserfleck-Muster hatte, das vage an ein Nilpferd erinnerte.
Leo trat noch einmal kräftig in die Pedale. Dabei ging ihm der silberne Löwenkopf nicht aus dem Kopf. Er wusste noch nicht, was es bedeutete. Aber er würde es herausfinden, das schwor er sich fest.
Gerade bog er in die kleine Seitenstraße ein, die direkt zur Schule führte, als ihm etwas ins Auge stach. Unbewusst hörte er auf zu treten, und ließ das Rad ausrollen. Seine Stirn legte sich in Falten.
Da war doch ... noch ein Löwe? Leo traute seinen Augen kaum.
Aber ja. Das gleiche Motiv wie gestern, eindeutig im selben Stil. Und somit auch von derselben Person?
Der Kopf des silbern schimmernden Löwen prangte auf der Seitenwand eines Zeitungskiosks. Das Maul leicht geöffnet, als würde er brüllen. Rechts unten vom Bild, anders als beim Graffiti neben der Churrería, stand hier jedoch außerdem in schwarzer, dicker Schrift:
Nur wer brüllt, wird gehört.
1. Juni – H3YN3S
Leo starrte darauf, während sich in seinem Bauch das Gefühl meldete, das er von ihrem letzten Fall nur zu gut kannte. Dieses Kribbeln, das sagte: Hier stimmt was nicht.
Langsam stieg er vom Rad, schob es an den Rand und trat näher an die Wand. Die Farbe glänzte leicht im Morgenlicht. Sie war nicht mehr richtig nass, aber eindeutig frisch.
Er kniete sich hin, um sich die Signatur genauer anzusehen. »H3YN3S«. Das war kein gewöhnlicher Name.
Die Drei statt dem E? Das war doch Absicht. Ein Künstlername vielleicht? Oder ein Deckname?
Er zog sein Handy aus der Tasche, knipste ein schnelles Foto und vergrößerte den Schriftzug mit zwei Fingern. Das gleiche Motiv wie beim ersten Graffiti.
Aber dieses Mal mit Datum.
Dem heutigen.
Leo sah sich um. Bis auf ein paar Schüler, die knapp vor dem ersten Klingeln dran waren, war die Straße leer. Niemand schien das Graffiti zu bemerken. Oder sich zu wundern.
Er spürte, wie sich eine Gänsehaut auf seinen Armen bildete.
Ein weiteres Graffiti an einem neuen Ort, aber wieder dieser Löwe. Und eine Botschaft, die klang wie der Anfang eines Spiels. Oder einer Warnung. Zum jetzigen Zeitpunkt konnte Leo nur raten.
»Nur wer brüllt, wird gehört«, murmelte er leise vor sich hin, während er auf das glänzende Maul des Löwen sah. Dann trat er zurück, hielt das Handy ans Ohr und tat so, als würde er telefonieren. In Wirklichkeit wollte er einfach nur beobachten, ob sich irgendwo jemand versteckte. Ob der Sprayer vielleicht noch in der Gegend war.
Aber nichts Ungewöhnliches war zu sehen.
Leo seufzte, schob sein Handy zurück in die Tasche und stieg wieder auf sein Rad. »H3YN3S«, sagte er noch einmal leise vor sich hin. Dann trat er in die Pedale, nahm die letzte Kurve zur Schule und bereitete sich innerlich schon darauf vor, Cami und Mateo davon zu erzählen.
Er kannte sie gut genug, um zu wissen: Sobald sie das hörten, war Schluss mit Lernen und Hausaufgaben. Sie würden wieder mittendrinstecken.
Im nächsten Fall.
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Die große Pause war Leos Rettung. Er hatte Mathe überstanden, ohne dass Señor Fernández ihn groß für das fleckenverzierte Hausaufgabenheft gerügt hatte: »Ein Nilpferd, Leo? Wirklich?« – »Künstlerische Freiheit, Señor.« Jetzt suchte er mit schnellen Schritten den Schulhof nach zwei ganz bestimmten Menschen ab.
Er fand sie in ihrer gewohnten Ecke, hinter dem alten Geräteschuppen, wo nur selten jemand vorbeikam. Mateo balancierte mit seinem bewährten Geschick einen Schokobrötchenhälften-Stapel auf seinem Oberschenkel. Cami starrte währenddessen in einer Mischung aus Konzentration und Frustration, die ihr auf die Stirn gemalt waren, auf ihr Tablet.
»Da bist du ja endlich«, murmelte sie, ohne aufzusehen. »Ich habe schon zwei Theorien, eine Hypothese und eine Verschwörung im Angebot, was das Löwen-Graffiti an der Churrería betrifft.«
»Hallo auch«, antwortete Leo trocken. »Schön, dass ihr mich vermisst habt.«
Mateo zuckte mit den Schultern und deutete auf das Tablet. »Cami ist schon seit dem ersten Gong im Recherche-Modus. Und ich darf nicht mal essen, ohne dass sie mir Fragen stellt. Dabei ist das Schokobrötchen wissenschaftlich erwiesen die beste Denkunterstützung.«
Leo ließ sich neben die beiden fallen, zog sein Handy raus und zeigte das Foto vom neuen Graffiti. »Ich habe heute Morgen noch eins entdeckt. Direkt bei dem alten Zeitungskiosk an der Calle Romero. Gleicher Löwe. Aber dieses Mal mit Datum. Und Signatur.«
Cami riss ihm das Handy beinahe aus der Hand. »Ich wusste es! Das ist eine Serie. Und die Signatur habe ich auch schon gefunden. Na ja … zumindest ein paar Hinweise.« Sie drehte das Tablet zu den Jungs. Eine Seite mit Street-Art-Diskussionen, ein paar Bildern von ähnlichen Stilen, und mittendrin der Name H3YN3S.
»Er oder sie hat wohl schon öfter in Madrid was gesprüht«, erklärte sie. »Aber bisher nie im Barrio Dorado. Und nie mit Datum oder diesem speziellen Löwen. Das ist neu.«
Mateo kaute langsam, schob sich dann die zweite Hälfte seines Brötchens in den Mund und nuschelte: »Vielleicht ist das so etwas wie Werbung? Für ein Festival? Oder ein Kunstprojekt?«
Leo schüttelte den Kopf. »Nein. Das fühlt sich anders an. Ich meine, warum gerade bei uns im Viertel? Und warum so plötzlich und so viele?«
»Weil wir berühmt sind«, warf Mateo ein. »Nach dem Rosa-Fall weiß inzwischen halb Madrid, dass wir die besten Detektive des Landes sind. Vielleicht ist das hier eine persönliche Einladung. Von einem Fan. Der brüllt.« Er grinste.
Cami verdrehte die Augen. »Oder jemand will die Menschen auf eine falsche Fährte locken. Um von etwas anderem abzulenken. Ich habe da etwas gelesen über sogenannte False Leads, absichtlich gestreute Spuren. Das wäre mega clever.« Ihre Augen hatten einen seltsamen Glanz angenommen.
Leo lehnte sich an die Wand des Geräteschuppens und sah in den Himmel. »Oder es ist eine Warnung. ›Nur wer brüllt, wird gehört.‹ Das klingt nicht gerade wie ein künstlerischer Spruch. Eher wie ... ein Aufruf.«
Die drei schwiegen. Der Lärm des Schulhofs war plötzlich sehr weit weg.
»Vielleicht steckt auch einfach gar nichts dahinter«, sagte Mateo schließlich. »Vielleicht wollen wir einfach zu sehr, dass wieder etwas passiert. Dabei vertreibt sich hier nur ein gelangweilter Graffiti-Sprayer die Zeit.«
Cami sah ihn an. »Seit wann glaubst du daran, dass Dinge einfach so passieren?«
»Stimmt auch wieder«, murmelte er.
Leo sah zu seinen Freunden. »Also? Was machen wir?«
Cami klappte die Hülle des Tablets zu. »Wir finden raus, wer oder was H3YN3S ist. Und was es mit diesem Spruch auf sich hat.«
Mateo seufzte theatralisch. »Ich habe es geahnt: Das nächste Abenteuer kommt. Ich hätte wirklich einen Churro-Vorrat anlegen sollen.«
Leo grinste. »Nach der Schule treffen wir uns in der Churrería. Wenn Pepa da ist, weiß sie vielleicht mehr.«
Cami nickte. »So machen wir das.«
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Am Nachmittag schien alles wie immer zu sein. Fast.
Die Sonne hatte sich inzwischen durch die Wolken gekämpft und ließ das Barrio Dorado im warmen Licht glänzen. Die Straßen inklusive der Plaza San Lorenzo waren geschäftig, der Duft nach frisch frittierten Churros lag in der Luft. Aus dem Fenster der Churrería klang das leise Scheppern von Tellern und das Zischen der Fritteuse.
Leo lehnte mit verschränkten Armen an der Tür und wartete. Hörte. Hielt Ausschau.
Doch nichts.
Keine samtpfotigen Schritte auf den Markisen der umliegenden Geschäfte. Kein wohliges Schnurren auf der Fensterbank. Kein theatralisches Miauen, das einen Churro verlangte, als stünde sie kurz vor dem Verhungern, war zu hören.
»Sie ist nicht da«, stellte Cami fest, als sie neben ihm auftauchte.
Leo schüttelte den Kopf. »Sie ist immer da. Egal, ob die Sonne scheint oder es regnet. Sogar wenn Abuela laut schimpft, weil sie wieder durchs Fenster hüpft und mit Pfoten voller Matsch auf dem Tisch landet.«
Mateo kam als Letzter, schob sich an ihnen vorbei durch die Tür und schnupperte. »Ich hoffe, wenigstens die Churros sind da. Vielleicht ist sie einfach auf Mäusejagd.«
»Den ganzen Tag?«, fragte Cami.
»Unwahrscheinlich«, betätigte Leo.
Sie gingen hinein. Abuela winkte aus der Küche. »Setzt euch, Kinder! Die Churros kommen gleich. Frisch aus der Fritteuse, die besten heute!«
Mateo reagierte sofort auf das Kommando und ließ sich auf die Bank an ihrem Lieblingstisch in der Ecke fallen, während Leo und Cami sich einen Blick zuwarfen. Dann trat Leo an das große Fenster. Von hier aus konnte man den Platz überblicken, die Dachrinnen, sogar die obere Kante des Kiosks, wo Pepa manchmal thronte und sich sonnte.
Immer noch nichts.
»Abuela?«, fragte Cami vorsichtig. Auch wenn sie Leos Großmutter war, hatte sich dieser Name fest bei den Freunden etabliert. Cami und Mateo waren quasi adoptierte Enkelkinder von Leos Abuela. »Hast du Pepa heute schon gesehen?«
Die alte Dame hielt mitten im Umrühren der heißen Schokolade inne, die sie frisch für die Drei zubereitete. »Pepa? Nein, seit gestern, als sie dem Fischer frischen Hering vom Marktstand geklaut hat und dieser sie wütend über die gesamte Plaza verfolgt hat, nicht mehr.«
Leo schüttelte den Kopf. »Das war auch das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«
Abuela zuckte die Schultern. »Vielleicht hat sie einen ihrer wilden Tage. Die Straßenkatzen verschwinden manchmal für ein paar Stunden. Oder auch für ein paar Tage. Kein Grund zur Sorge.«
»Oder sie hat etwas gesehen, das sie spannend fand …«, sprach Cami ihren Gedanken laut aus.
Mateo sah auf. »Du meinst, sie ist schon mitten im Fall und verfolgt diesen H3YN3S? Und hat uns nicht mal Bescheid gesagt?«
Leo seufzte. »Klingt leider ziemlich nach ihr.«
Eine kurze, bedrückte Pause entstand, während von draußen die Kehrgeräusche eines Besens zu ihnen drangen.
Mateo runzelte schließlich die Stirn. »Ich kann nicht glauben, dass Pepa bereits auf Spurensuche ist und wir sitzen hier und tun … nichts?«
Leo stand auf. »Wir teilen uns auf. Einer checkt die Plaza und die umliegenden Gassen. Einer den alten Bahnhof. Und einer bleibt hier, falls sie zurückkommt.«
Cami nickte. »Ich nehme die Plaza und die Gassen. Vielleicht entdecke ich direkt noch mehr Graffiti.«
»Ich gehe zum Bahnhof«, sagte Leo. »Alte Bahnwaggons werden von Sprayern ja auch gern für ihre Kunstwerke genutzt.«
Mateo seufzte und griff nach einem Churro. »Ich bleibe. Irgendjemand muss ja Opfer bringen und Schokolade essen. Für die Katz.«
Sie warfen sich ein Lächeln zu, auch wenn es nur kurz war. Denn wenn Pepa verschwand, war das kein Zufall. Dann war es ernst.
Herumstreunende Straßenkatze hin oder her.
Neugierig geworden?
Jennas Kaffeekasse
Wenn ihr das Bedürfnis habt, euch für meine Arbeit bedanken zu wollen, ladet mich gerne auf einen Kaffee ein. Ich danke euch!