Ein Happy Bean für Hattie

Ein Happy Bean für Hattie

Kapitel 1

Hattie

Mit den Ellenbogen stützte ich mich auf die Theke und sah mich im Happy Bean um. Während mein Herz aufgeregt in meiner Brust hüpfte, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Das Bimmeln der Eingangstür und das Zischen der Kaffeemaschine waren mein tägliches Mantra und aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken.
Und bald würde das alles mir gehören.
Nur mit Mühe konnte ich das aufgeregte Quietschen, das sich aus meinem Mund stehlen wollte, unterdrücken.
Oaks Harbor befand sich noch in den frühen Morgenstunden und bald würden die ersten Stammkunden eintrudeln. Ich kannte sie alle: Mr Thompson mit seinem schwarzen Kaffee und der Tageszeitung, die quirligen Seniors von der Highschool, die auf dem Weg zur Schule ihren Koffein-Kick holten, und die Rentnergruppe um Mrs Jefferson aus dem Sunny Oaks, die jeden Donnerstag zum Klatsch und Tratsch auf Kaffee und Karottenkuchen zusammenkamen.
Und nicht zu vergessen Oaks Harbors sympathischstes Paar, Suzie und Liam, die sich jeden Morgen ohne Ausnahme ihre beiden Matcha Latte bei mir holten. Ihre turbulente Liebesgeschichte hatte ausgerechnet bei mir im Happy Bean ihren Anfang gefunden ...
Ein dankbares Seufzen entwich mir.
Ich hatte große Träume. Seit ich vor fünf Jahren im Happy Bean zu arbeiten begonnen hatte, wusste ich, dass ich das Geschäft irgendwann einmal selbst führen wollte. Das war der Plan gewesen und daran hatte ich mich auch gehalten.
Und nun, nach all den Jahren harter Arbeit und des Sparens, stand dieser Traum kurz vor der Verwirklichung. Mr Grant, der aktuelle Besitzer – noch! –, hatte mein Angebot, das Happy Bean zu übernehmen, angenommen.
Alles, was jetzt noch fehlte, war die Unterschrift auf dem Kaufvertrag. Der Termin war für heute Nachmittag angesetzt.
Deshalb das klopfende Herz in meiner Brust, das sich selbst nicht beruhigte, wenn ich meine Hand darauf presste und tief durchatmete. Oder das Dauergrinsen in meinem Gesicht, das einfach nicht verschwinden wollte.
Egal. Das hier war mein Tag. Da durfte ich dümmlich vor mich hin grinsen und mich freuen, so viel ich wollte. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten.
Während ich die Szene vor mir mit all meinen Sinnen aufzunehmen versuchte und kaum glauben konnte, dass das alles bald mir gehören würde, betrat ein neuer Kunde das Geschäft. Ein Unbekannter – was zu dieser Jahreszeit ungewöhnlich war, da sich in den letzten Zügen des Winters nur selten Touristen nach Oaks Harbor verirrten.
Aufmerksam ließ ich den Blick über ihn gleiten. Er war etwa durchschnittlich groß, wobei ich mit meinen einen Meter fünfundfünfzig dafür nicht als Maßstab galt. Sein kantiges Gesicht umrahmten dunkle Locken und seinen Mund zierte ein leichtes Lächeln.
Kurz brachte mich sein Anblick mit den tiefgründig wirkenden braunen Augen aus dem Konzept. Merkwürdigerweise konnte ich mich nur schwer von ihm lösen, als er sich einen Weg durch das Happy Bean zur Theke und damit unweigerlich zu mir bahnte.
»Guten Morgen.«
Die samtige Stimme schien mir sofort durch Mark und Bein zu gehen. Ich musste schlucken, um mich auf unser Gespräch konzentrieren zu können.
Reiß dich zusammen, Hattie, sprach ich mir still zu. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war. So hatte ich noch nie zuvor auf einen Kunden reagiert.
»Guten Morgen. Was darf es sein?«, rang ich mir mit Mühe ab und konnte ein kleines Quieken in meiner Stimme nicht unterdrücken. Innerlich schlug ich mir vor die Stirn, äußerlich versuchte ich mein Bestes in einem professionellen Auftreten als Barista.
»Ich hätte gerne einen Flat White«, erklang seine freundliche Bestellung.
»Natürlich.« Bevor ich weitersprach und damit meinen ersten Eindruck als leicht durchgeknallte Minderbemittelte festigte, räusperte ich mich und hoffte so, meine Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Kommt sofort.« Na bitte, das klang schon besser.
Während ich den Kaffee zubereitete, warf ich immer wieder verstohlene Blicke über meine Schulter auf den Unbekannten. Zum Glück hatte er sein Handy hervorgeholt und tippte darauf herum. So blieb mein Auskundschaften unbemerkt.
Wenigstens etwas. Man musste seine Siege schließlich feiern, wie sie fielen. Oder so ähnlich.
Als ich den Becher vor ihm abstellte, hatte ich mich wieder so weit unter Kontrolle, dass ich mich traute, den Mund zu öffnen.
»Was treibt dich nach Oaks Harbor?« Betont lässig griff ich nach dem Stapel mit den Deckeln, suchte den passenden heraus und legte ihn neben den To-go-Becher.
»Ich bin gerade hergezogen.«
Wieder traf mich seine tiefe, samtige Stimme, die sich wie purer Honig über mich zu ergießen schien, völlig unvorbereitet. Konnte man eigentlich allein durch auditive Stimulation einen Orgasmus bekommen? Ich frage für eine Freundin.
»Oh?« Sehr eloquent, Hattie, schimpfte ich mich aus.
»Ich bin Fotograf und arbeite für den Tourismusverband Michigan.«
»Cool.« Langsam übertrieb ich es aber mit meinen einsilbigen Antworten. Schnell dachte ich nach. »Das heißt, du wirst in nächster Zeit Oaks Harbor und die Umgebung auskundschaften, und nach Motiven für den Tourismusverband suchen?«
»Ja, aber nicht nur. Die Stelle beim Tourismusverband ist eine Teilzeitstelle. Ich arbeite auch als selbstständiger Fotograf.«
»Nun, Herr Fotograf, herzlich willkommen in unserem kleinen Städtchen. Ich hoffe, du lebst dich hier schnell ein.«
Mit einem Lachen bedankte er sich und wollte im nächsten Moment nach seiner Brieftasche greifen. Mit einer Hand winkte ich ab. »Der geht heute aufs Haus. Ein kleines Begrüßungsgeschenk für Oaks Harbors neuesten Einwohner.«
»Vielen Dank!« Mit einem Funkeln in den Augen streckte er die Hand über den Tresen in meine Richtung aus. »Und du kannst mich Sam nennen. Herr Fotograf klingt doch etwas förmlich, jetzt wo wir quasi Nachbarn sind ... Hattie.« Er machte eine kurze Pause, und sein Blick ruhte einen Moment lang auf meinem Namensschild, das an meiner Barista-Uniform befestigt war. Dann hob er wieder den Kopf und sah mich aus seinen tiefgründigen Augen an.
Mit einem Kloß im Hals erwiderte ich das Händeschütteln und fragte mich insgeheim, ob Sam zukünftig das Happy Bean wohl öfter aufsuchen würde.

Kapitel 2

Sam

Ein Neuanfang.
Genau das sollte Oaks Harbor für mich sein. Ein kleines Küstenstädtchen, weit weg von Seattle und all den Problemen, die ich hinter mir ließ. Der Rechtsstreit hatte mich fast zwei Jahre gekostet. Ebenso meine Reputation, meine Kunden. Meine Leidenschaft. Ein Foto, das ich mit so viel Herzblut geschossen hatte, war ohne meine Erlaubnis für eine millionenschwere Werbekampagne genutzt worden, und als ich mich dagegen wehrte, wurde ich aus der Branche gedrängt. Ein klassisches David-gegen-Goliath, in dem in meinem Fall der Kleinere den Kürzeren zog.
Also war ich hier. In einem Ort, von dem ich bis vor ein paar Wochen nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte. Die Stelle beim Tourismusverband war ein Glücksgriff gewesen, hoffte ich zumindest. Nicht besonders aufregend, aber sie gab mir Zeit, mich zu sammeln. Herauszufinden, wie es weiterging.
Und gerade jetzt gab es nur eine Sache, die mir wichtiger war als alles andere: Kaffee.
Das Happy Bean war mir von mehreren Leuten empfohlen worden. »Das Herz der Stadt«, hatte die Vermieterin meiner kleinen Wohnung gesagt. »Dort erfährst du alles, was wichtig ist.«
Die Glocke über der Tür bimmelte, als ich eintrat. Sofort empfing mich der Duft nach frisch gemahlenem Kaffee und etwas Süßem, Zimt vermutlich. Es war noch früh, der Himmel grau und verhangen und die Luft kühl, aber hier drinnen war es warm, einladend, lebendig.
Mein Blick wanderte durch das Café. Rustikale Holztische, eine große Tafel mit der Tageskarte in schwungvoller Kreidehandschrift, an den Wänden gerahmte Fotografien von Oaks Harbor. Mein geschulter Blick erkannte sofort, dass sie richtig gut waren, und ich fragte mich unweigerlich, wer sie wohl gemacht hatte.
Dann fiel mein Blick auf die Frau hinter der Theke.
Sie war klein, mit dunklen Locken und wachen Augen, die mir sofort aufgefallen waren. Da war etwas an ihr, eine Energie, eine Lebendigkeit, die den Raum ausfüllte. Sie wirkte, als gehörte sie hierher, als sei das Happy Bean nicht nur ihr Arbeitsplatz, sondern ihr Zuhause.
Ihr Herzensort.
Mit einem innerlichen Kopfschütteln rief ich mich zur Ordnung und bahnte mir einen Weg durch den Coffeeshop, um anschließend vor der Theke stehen zu bleiben.
»Guten Morgen.«
Sie zuckte fast unmerklich zusammen, als hätte ich sie aus Gedanken gerissen. Ein kurzes Schlucken, dann ein Lächeln. »Guten Morgen. Was darf es sein?«
Ich erwiderte ihr Lächeln. »Ich hätte gerne einen Flat White.«
»Natürlich.« Ihre Stimme war warm, aber da war auch ein leichtes Zittern. Hatte ich sie nervös gemacht?
Während sie den Kaffee zubereitete, zog ich mein Handy aus der Tasche, um eine Nachricht an meinen Bruder zu tippen. Er hatte darauf bestanden, dass ich mich meldete, sobald ich angekommen war. Doch statt mich auf die Nachricht zu konzentrieren, erwischte ich mich dabei, wie ich verstohlen zu der Barista hinüberblickte.
Sie war schnell, routiniert, und doch schien sie mich immer wieder aus den Augenwinkeln zu mustern. Interessant.
Als sie den Becher vor mir abstellte, hob ich den Blick.
»Was treibt dich nach Oaks Harbor?« fragte sie wie beiläufig, während sie nach einem Deckel griff.
Ich zögerte einen Moment. Die ehrliche Antwort? Weil ich nirgendwo anders mehr sein konnte. Aber das war zu viel für einen ersten Small Talk. Also entschied ich mich für die harmlose Variante. »Ich bin gerade hergezogen.«
Ihre Finger hielten kurz inne, bevor sie weitermachte. »Oh?«
»Ich bin Fotograf und arbeite für den Tourismusverband Michigan.«
»Cool.« Sie runzelte die Stirn, was ziemlich niedlich aussah, bevor sie weitersprach: »Das heißt, du wirst in nächster Zeit Oaks Harbor und die Umgebung auskundschaften, und nach Motiven für den Tourismusverband suchen?«
Ich nickte. »Ja, aber nicht nur. Die Stelle beim Tourismusverband ist eine Teilzeitstelle. Ich arbeite auch als selbstständiger Fotograf.«
Sie lächelte. »Nun, Herr Fotograf, herzlich willkommen in unserem kleinen Städtchen. Ich hoffe, du lebst dich hier schnell ein.«
Leise lachte ich. »Danke.« Ich griff nach meiner Brieftasche, doch sie winkte sofort ab.
»Der geht heute aufs Haus. Ein kleines Begrüßungsgeschenk für Oaks Harbors neuesten Einwohner.«
Überrascht sah ich sie an. »Vielen Dank!« Ich streckte eine Hand über den Tresen aus, und als sie sie ergriff, war ihr Händedruck fest, warm. »Und du kannst mich Sam nennen. Herr Fotograf klingt doch etwas förmlich, jetzt wo wir quasi Nachbarn sind … Hattie«, ergänzte ich nach einem kurzen Blick auf ihr Namensschild.
Ich ließ den Namen auf der Zunge zergehen. Es passte zu ihr. Kurz, lebendig, voller Energie.
Für einen Moment schien sie überrascht, dass ich ihren Namen wusste. Dann dämmerte es ihr, und ich konnte förmlich sehen, wie die Erkenntnis in ihren Augen aufblitzte. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen.
»Schön, dich kennenzulernen, Hattie.«
Sie blinzelte, dann lachte sie. »Ebenso, Sam.«
Als ich das Café verließ, wärmte der Kaffee in meiner Hand meine Finger. Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich das Gefühl, dass vielleicht, nur vielleicht, dieser Neuanfang genau das war, was ich gebraucht hatte.

Kapitel 3

Hattie

Der Tag zog sich in die Länge, als würde jemand absichtlich die Uhr verlangsamen. Meine Aufregung stieg ins Unermessliche, je näher der Termin mit Mr Grant rückte. Die Kaffeemaschine brummte wie immer beruhigend, doch mein Herzschlag glich eher einem aufgeregten Trommelwirbel.
Etwa eine Stunde vor dem Termin beim Notar betrat Mrs Jefferson das Happy Bean. Schon von Weitem kündigten sie ihre knallrote Handtasche und der unverkennbare Duft von Chanel No. 5 an.
»Hattie, mein Darling!«, rief sie mit einer Stimme, die wie eine Mischung aus Großmutter und General klang. Man kam gar nicht umhin, sie gernzuhaben. Zumindest ging es mir so. »Ist unser üblicher Tisch frei?«
Ich schenkte ihr ein breites Lächeln. »Natürlich, Mrs Jefferson. Euer Lieblingsplatz ist wie immer bereit.«
Die Rentnergruppe trudelte eine nach der anderen ein. Bald schon füllte das aufgeregte Geplapper der Damen den Coffeeshop. Es war immer eine Freude, ihren Geschichten zu lauschen, auch wenn ich sie schon unzählige Male zuvor gehört hatte. Doch heute schien ein anderes Thema im Mittelpunkt zu stehen.
»Habt ihr von dem Neuen in der Stadt gehört?«, begann Mrs Jefferson und zog alle Blicke auf sich. »Er soll äußerst charmant sein und aussehen wie ein Filmstar.«
Ein wissendes Lächeln huschte über mein Gesicht, während ich ihnen den frisch gebackenen Karottenkuchen servierte.
»Nur weil er gutaussehend und charmant ist, heißt das nicht, dass er Interesse an dir hat, Martha.«
»Aber an dir, Trudy?«
Bevor die Runde vor mir in einen Streit verfallen konnte, bei dem die Damen sich nicht zu schade waren, ihre Handtaschen zur Untermauerung ihrer Argumente einzusetzen – ja, ich sprach hier aus Erfahrung –, entschied ich mich, schlichtend einzugreifen. »Ihr sprecht sicher von Sam«, sagte ich und versuchte gleichzeitig, meine Stimme möglichst gleichgültig klingen zu lassen.
»Oh, Hattie, du kennst ihn schon?« Mrs Jeffersons Augen funkelten vor Neugierde.
Mir schwante Böses.
»Er war heute Morgen hier und hat sich einen Coffee-to-go bestellt«, erklärte ich und spürte gleichzeitig, wie Wärme in meine Wangen kroch. »Er ist Fotograf und arbeitet für den Tourismusverband Michigan.«
»Ein Fotograf, der gut aussieht und charmant ist? Oaks Harbor wird ja richtig aufregend«, kicherte Mrs Hopkins und griff nach ihrer Kaffeetasse.
Wissend sah Mrs Jefferson zu mir auf.
»Du scheinst ja bereits bestens informiert zu sein, meine Liebe.«
Bevor ich darauf reagieren konnte, wurde ich vom Läuten der Eingangstür gerettet. Und staunte nicht schlecht, als kein Geringerer als besagter Fotograf das Happy Bean zum zweiten Mal an diesem Tag betrat.
Als hätte er gespürt, dass über ihn gesprochen wurde.
Seine Präsenz schien sich augenblicklich im gesamten Coffeeshop auszubreiten und ich hielt unwillkürlich die Luft an. Während er direkt am Eingang stehen geblieben war, huschten seine Augen suchend durch die Gegend.
Bis sie schließlich auf mir liegen blieben.
Ging es nur mir so, oder hatte die Welt plötzlich aufgehört, sich zu drehen?
»Hattie«, sagte er, als er näher kam. »Darf ich dich kurz sprechen?«
Ein Hauch von Panik ergriff mich, als ich einen Blick zu den Seniorinnen riskierte. Natürlich starrten sie zu uns hinüber, die Neugier eindeutig auf ihren Gesichtern erkennbar.
»Na klar«, antwortete ich bemüht gelassen und führte ihn zur Seite.
»Ich wollte mich noch einmal für den Kaffee heute Morgen bedanken«, begann er, seine Stimme wieder dieser tiefe, samtige Klang, der mich wie elektrisiert zurückließ. »Und ich wollte fragen, ob du vielleicht Interesse hättest, mir ein wenig nach deiner Schicht die Stadt zu zeigen. Ich könnte jemanden gebrauchen, der sich hier auskennt.«
Das klang nicht wie die Einladung zu einem Date. Nichtsdestotrotz machte mein Herz vor Freude einen Sprung.
Der gut aussehende Fotograf wollte Zeit mit mir verbringen!
Damit du ihm seine Arbeit erleichterst, erklang es zynisch aus meinem Inneren.
Ich stellte mich taub.
»Das würde ich sehr gern«, antwortete ich schließlich. »Allerdings habe ich heute Nachmittag einen wichtigen Termin.«
»Kein Problem.« Wieder dieses Lächeln, das mich noch um den Verstand bringen würde. »Vielleicht ein anderes Mal.« Er griff in seine Hosentasche, holte wie schon am Morgen sein Portemonnaie hervor, als er seinen Kaffee bezahlen wollte, und zog eine kleine Karte heraus. »Meld dich, wenn du Zeit hast.«
Zögernd nahm ich die Karte entgegen, während die Schmetterlinge in meinem Bauch Saltos schlugen. Ich ließ den Blick von ihm zu der Visitenkarte wandern und konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf meine Lippen stahl. »Das mache ich.«
»Bis bald, Hattie«, verabschiedete er sich mit einem tiefen Blick in meine Augen und verließ das Geschäft, während ich noch immer leicht benommen dastand und Schwierigkeiten hatte, das eben Geschehene zu verarbeiten.
Mrs Jefferson und ihre Freundinnen warteten natürlich nicht lange, um wieder meine Aufmerksamkeit zu erlangen.
»Was wollte er denn?«, fragte die resolute Anführerin der Rentner-Gang. Ich konnte eindeutig erkennen, dass sie Schwierigkeiten hatte, ein verschmitztes Grinsen zu unterdrücken.
»Er wollte nur, dass ich ihm die Stadt zeige«, antwortete ich und versuchte, beiläufig zu klingen, obwohl mein Inneres immer noch aufgeregt jubelte.
»Na, dann haben wir ja bald die nächste Hochzeit in Oaks Harbor«, freute sich Mrs Jefferson. Die anderen Damen stimmten sofort in das Gelächter mit ein.
Ich jedoch schüttelte abwehrend den Kopf.
Ob über die Hirngespinste der Seniorengruppe oder die unwirkliche Situation, deren Zeugin ich soeben geworden war und die sich wie ein Traum anfühlte, konnte ich nicht sagen ...

Kapitel 4

Sam

Oaks Harbor war genau das, was ich gebraucht hatte. Eine kleine Stadt am See, weit weg vom Chaos Seattles und der Misere, die ich dort hinter mir gelassen hatte. Ein Neuanfang. Das hatte ich mir zumindest eingeredet. Aber seit heute Morgen – genauer gesagt, seit meinem ersten Kaffee im Happy Bean – hatte sich ein anderer Gedanke in meinem Inneren eingenistet. Einer, den ich nicht erwartet hatte.
Hattie.
Sie war mir den gesamten Tag über nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ihre Energie, ihr Lächeln, die Art, wie sie hinter der Theke stand, als wären sie und das Happy Bean eine untrennbare Einheit. Ich hatte keinen Plan, was genau es war, aber sie wirkte ... echt. Unverfälscht. Ein Wirbelwind in Sneakers, der zwischen Kaffeemaschine und Tresen jonglierte, als wäre das ihr ganzes Universum. Und wenn ich ehrlich war, hatte ich schon lange niemanden mehr getroffen, der so authentisch wirkte wie sie.
Während ich mit meiner Kamera durch die Straßen von Oaks Harbor streifte, versuchte ich mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Erste Aufnahmen für den Tourismusverband. Die pastellfarbenen Häuser, der Jachthafen, die kleinen Geschäfte mit handgemachten Schildern, es war die reinste Postkartenidylle. Und doch war mein Kopf nicht ganz bei der Sache.
Schließlich landete ich wieder vor dem Happy Bean. Vielleicht war es Zufall. Vielleicht auch nicht. Ehrlich gesagt traute ich mich nicht, das genauer zu hinterfragen.
Als ich eintrat, war die Stimmung beinahe schon vertraut. Die Geräusche von klapperndem Geschirr, gedämpfte Gespräche, der Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Bis ich sie sah.
Hattie stand am Tisch einer Gruppe älterer Damen und hatte bei meinem Betreten des Coffeeshops den Blick zu mir gewandt. Während ich meine Augen nicht von ihr lassen konnte, nahm ich nur am Rande wahr, wie die Gäste ihr Gespräch unterbrachen und ebenfalls zu mir sahen.
Darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Entschlossenen Schrittes ging ich auf meine neue Lieblingsbarista zu. »Hattie«, sprach ich sie mit einem Lächeln an. »Darf ich dich kurz sprechen?«
Ihre Augen huschten zu der Gruppe am Tisch, die mich weiterhin mit unverhohlenem Interesse betrachteten. Eine von ihnen – die resolut wirkende Frau mit der knallroten Handtasche – hob vielsagend die Augenbrauen.
»Klar«, sagte Hattie und führte mich ein Stück zur Seite, wo wir etwas mehr Privatsphäre hatten. »Was gibt’s?«
»Ich wollte mich noch einmal für den Kaffee heute Morgen bedanken«, begann ich und schob die Hände in die Taschen meiner Jacke. »Und ich wollte fragen, ob du vielleicht Interesse hättest, mir ein wenig nach deiner Schicht die Stadt zu zeigen. Ich könnte jemanden gebrauchen, der sich hier auskennt.«
Da war er wieder, dieser Ausdruck in ihren Augen. Fast so, als hätte sie nicht damit gerechnet. Oder als würde sie hoffen, es wäre mehr als nur eine freundschaftliche Einladung. Ich konnte es nicht genau sagen.
»Das würde ich sehr gern«, antwortete sie schließlich. »Allerdings habe ich heute Nachmittag einen wichtigen Termin.«
»Kein Problem.« Ich zwang mich zu einem leichten Lächeln. »Vielleicht ein anderes Mal.« Ich griff nach meiner Brieftasche, zog eine meiner Visitenkarten heraus und reichte sie ihr. »Meld dich, wenn du Zeit hast.«
Sie nahm sie entgegen, ihr Blick huschte über meinen Namen, dann wieder zu mir. Ein kaum merkliches Lächeln spielte um ihre Lippen. »Das mache ich.«
»Bis bald, Hattie«, sagte ich und hielt ihren Blick noch einen Moment länger, bevor ich mich umdrehte und das Café verließ.

Später, allein in meiner neuen Wohnung, ließ ich mich mit einem Seufzen auf das Sofa fallen. Viel hatte noch nicht den Weg aus den Umzugskartons nach draußen geschafft, aber immerhin standen die meisten Möbel bereits an ihrem Platz. Mein Laptop lag auf dem Couchtisch, die Kamera daneben. Ich hatte den ganzen Tag fotografiert, aber mittlerweile konnte ich kaum noch sagen, was ich überhaupt aufgenommen hatte.
Mit einem erneuten Seufzen klappte ich den Laptop auf und begann, die Bilder durchzusehen. Der Hafen in der schwachen Wintersonne, die kleinen Läden mit ihren bunten Anstrichen, die alten Holzhäuser mit Veranden, die bei wärmerem Wetter zum Verweilen einluden.
Alles schön. Alles professionell.
Und dann ein Bild, das ich nicht aufgenommen hatte.
Hattie.
Sie stand hinter dem Tresen, das Licht fiel durch das Fenster auf ihr Gesicht. Ihr Blick war nach unten gerichtet, vertieft in ihre Arbeit, während sie mit konzentrierter Miene Kaffee einschenkte. Es hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte, um es wieder zu löschen.
Die Frage war nur, ob ich das überhaupt wollte. Denn warum auch immer ging mir die sympathische, quirlige Barista aus dem Happy Bean nicht mehr aus dem Kopf.
Und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wanderten meine Mundwinkel ohne jeden Zwang nach oben. Ging mein Atem ein kleines bisschen leichter.
Sah ich der Zukunft etwas zuversichtlicher entgegen.

Kapitel 5

Hattie

Mit den Ellenbogen auf die Theke gestützt, ließ ich meinen Blick durch das Happy Bean schweifen. Mein Happy Bean.
Mein Herz hüpfte vor Aufregung, und ein breites Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Anders als gestern war es heute offiziell: Das Happy Bean gehörte mir.
Endlich.
Ein erleichtertes Seufzen entwich mir, während ich mich in meinem eigenen Reich umsah. Der Termin mit Mr Grant gestern beim Notar war reibungslos verlaufen. Das Geld war überwiesen und ich durfte mich nun stolze Besitzerin eines Coffeeshops nennen.
Wie aufs Stichwort meldeten sich die Schmetterlinge in meinem Bauch erneut zu Wort, wie sie das in letzter Zeit häufiger getan hatten. Der Ansturm vom Morgen hatte mittlerweile nachgelassen und ich konnte das erste Mal an diesem Tag so richtig innehalten und die Geschehnisse des Vortages sacken lassen. Ich war so unfassbar stolz auf mich. All das Sparen über die letzten Jahre, die extra Schichten, um so viel Geld wie möglich verdienen und beiseitelegen zu können, all das hatte sich nun ausgezahlt.
Wenn das nicht nach einer Feier rief.
Gestern Abend war ich zu überfordert gewesen, zu aufgewühlt, um das wirklich zu begreifen. Doch jetzt, da sich die erste Aufregung gelegt hatte, wollte ich diesen Moment teilen.
Langsam wanderte mein Blick zur Ablage neben der Kasse. Ganz vorn stand eine weiße Visitenkarte mit schlichter, eleganter grauer Schrift. Sie schien mich förmlich aufzufordern, sie zu nehmen und die darauf abgedruckte Nummer anzurufen.
Die Schmetterlinge in meinem Bauch schlugen nun Kapriolen. Sollte ich wirklich?
Anscheinend hatte mein Herz sich bereits dafür entschieden, denn meine Hand streckte sich nach dem kleinen Kärtchen aus. Auch wenn wir uns am Vortag nur zweimal kurz gesehen und lediglich ein paar Worte miteinander gewechselt hatten, so war Sam der Erste gewesen, an den ich vor ein paar Minuten, als mir der Gedanke nach einer Feier gekommen war, gedacht hatte.
Ich wollte diesen ersten Tag in meinem neuen Leben mit ihm verbringen. Also nahm ich einen tiefen Atemzug, griff nach meinem Handy und tippte …

»Ich freue mich wirklich, dass du mich angerufen hast, Hattie.«
Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, während ich neben Sam auf der Promenade am Strand entlangschlenderte. Am Telefon hatte ich mit ihm vereinbart, dass er mich am frühen Nachmittag vom Coffeeshop abholen würde, damit ich ihm ein wenig von Oaks Harbor zeigen konnte.
Wir waren die Main Street entlanggelaufen, wo ich ihm die kleinen Geschäfte, die den Charme unserer Stadt ausmachten, gezeigt und kurze Anekdoten zu jedem Inhaber erzählt hatte. Ich hatte ihm zum Rathaus und dem danebenliegenden Festplatz geführt, auf dem das ganze Jahr über diverse Veranstaltungen stattfanden. Wir waren an der Highschool vorbeigelaufen, wo Sam interessiert das Footballstadion und die Eishockeyhalle aufgenommen hatte.
Jetzt, Stunden später, schlenderten wir besagte Promenade am Lake Michigan entlang. Langsam wurden meine Beine müde. Aber ich war noch lange nicht bereit, unseren Stadtrundgang zu beenden. Die Zeit mit Sam war wie im Flug vergangen. Er hatte Anekdoten von seinen Reisen durch die ganze Welt und Geschichten aus seiner Kindheit in Seattle mit mir geteilt. Wir hatten uns über Mrs Jefferson und ihre Gang amüsiert und gemeinsam über Kleinigkeiten gelacht, die uns während unserer Tour aufgefallen waren.
Nie zuvor hatte ich mich an der Seite eines Mannes so gefühlt. So wahrgenommen, so gesehen als die Person, die ich wirklich war. Er hatte Fragen zu meinem Leben in Oaks Harbor gestellt und meinen Antworten interessiert zugehört. Zu Beginn hatte er mich zu meinem Kauf vom Happy Bean beglückwünscht und sich aufrichtig für mich gefreut, dass ich mir meinen Traum vom eigenen Geschäft erfüllt hatte, nachdem ich ihm davon berichtet hatte.
»Kannst du dieses Restaurant empfehlen?«
Wir waren vor dem Lake Star angekommen und stehen geblieben. Dass es sich um ein Restaurant handelte, war eindeutig durch die bodentiefen Fenster, die einen beeindruckenden Blick über den See gaben, zu erkennen.
»Das Lake Star?«, fragte ich, während ich mit dem Daumen über meine Schulter zeigte.
Sam nickte.
»Auf jeden Fall. Der Koch ist ein wahres Genie, alles auf der Karte ist empfehlenswert und die Aussicht von einem der Plätze am Fenster ist ein Traum, vor allem abends, wenn die Sonne untergeht«, schwärmte ich über mein liebstes Restaurant in der Umgebung.
Aufmerksam sah Sam zu mir hinab und ich musste unwillkürlich schlucken, als sich sein intensiver Blick wie ein Lauffeuer in mir ausbreitete.
»Na dann, Hattie, Besitzerin des Happy Bean«, grinste er mich an. »Hast du heute Abend schon etwas vor oder möchtest du mich vielleicht auf ein Abendessen ins Lake Star begleiten und die Aussicht von dort genießen?«
Selbst wenn ich nach unserem ausgiebigen Spaziergang genug von ihm gehabt hätte, dieser Blick hätte mich auf jeden Fall umgestimmt.
»Ich kann mir nichts Besseres vorstellen.« Zaghaft lächelte ich zu ihm hinauf.
»Dann los.« Damit drehte er sich in Richtung Aufgang, über den man vom Strand aus zum Restaurant gelangte, und hielt mir auffordernd seinen Arm hin. Sein schelmisches Grinsen gab mir den Rest. Mit klopfendem Herzen hakte ich mich bei ihm unter und spürte sofort die Wärme, die bei der plötzlichen Nähe von ihm ausging und sich in mir ausbreitete.
Ja. Mein Impuls, diesen Tag mit ihm zu verbringen, war genau richtig gewesen.

Kapitel 6

Sam

Nach dem Nachmittag mit Hattie fühlte ich mich anders. Unruhig. Begeistert. Verwirrt.
Es war ein simpler Stadtrundgang gewesen, oder zumindest hatte ich mir das eingeredet. Doch irgendetwas hatte sich in mir verschoben. Es war nicht nur die Art, wie sie mir die schönsten Ecken von Oaks Harbor gezeigt hatte, die ich ohne sie nie wahrgenommen hätte. Es war ihr Lachen, das immer noch in meinem Kopf nachhallte. Die Begeisterung in ihrer Stimme, wenn sie von ihrer Heimatstadt sprach. Und die Art, wie sie mich ansah, als fühlte sie sich wohl an meiner Seite.
Ich hatte nicht geahnt, dass jemand mich so schnell berühren könnte. Und erst recht nicht, dass eine Kleinstadt wie Oaks Harbor sich so sehr nach einem Zuhause anfühlen könnte. Doch genau das passierte hier in diesem Moment.
Mittlerweile waren wir am See angekommen. Die kühle Abendluft streifte meine Haut, während ich Hattie beobachtete. Sie hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und sah hinaus auf das glitzernde Wasser, ihre Silhouette vom letzten Licht des Tages umrahmt. Ich sollte nicht so empfinden. Ich sollte mir das nicht erlauben.
Und dennoch ...
»Kannst du dieses Restaurant empfehlen?«, fragte ich Hattie, während mein Herz aus der Brust zu springen drohte.
»Das Lake Star?«, fragte sie, während sie auf das Gebäude hinter sich zeigte.
Ich nickte.
»Auf jeden Fall. Der Koch ist ein wahres Genie, alles auf der Karte ist empfehlenswert und die Aussicht von einem der Plätze am Fenster ist ein Traum, vor allem abends, wenn die Sonne untergeht«, erklang es aufrichtig und festigte meinen Entschluss.
»Na dann, Hattie, Besitzerin des Happy Bean. Hast du heute Abend schon etwas vor oder möchtest du mich vielleicht auf ein Abendessen ins Lake Star begleiten und die Aussicht von dort genießen?«
Als Antwort erschien ein strahlendes Lächeln in ihrem Gesicht, und ich musste den dringenden Instinkt unterdrücken, sie an mich zu ziehen und meinen Mund auf ihren zu pressen. Dafür war später immer noch Zeit. Hoffentlich ...
»Ich kann mir nichts Besseres vorstellen.«
Grinsend sah ich zu ihr hinunter. »Dann los.« Ich drehte mich Richtung Restaurant und streckte ihr übermütig einen Ellenbogen entgegen. Gott sei Dank verstand sie meine Aufforderung und hakte sich unter, sonst wäre es wirklich peinlich für mich geworden. Gemeinsam überquerten wir den Strandaufgang und ich fragte mich bereits, was die Karte alles hergab, den nach der Bewegung der letzten Stunde hätte ich eine riesige Portion Surf’n’Turf verschlingen können.
Wir waren noch nicht weit gekommen, als mein Handy plötzlich in meiner Jackentasche vibrierte. Mit einem merkwürdigen Gefühl, das ich mir nicht erklären konnte, sah ich mit einem entschuldigenden Blick auf Hattie hinunter und zog es hervor. Als ich den Namen auf dem Display sah, wusste ich sofort, dass mein Gefühl mich nicht getrogen und die Realität mich wieder eingeholt hatte.
»Gib mir eine Sekunde«, murmelte ich und trat ein paar Schritte zur Seite, während ich den Anruf mit einer kurzen Begrüßung entgegennahm.
»Sam, hey!« Die Stimme am anderen Ende war vertraut. Zu vertraut. »Lange nichts mehr von dir gehört.«
»Hey, Mike.« Mein Magen zog sich zusammen. Ich wusste, was jetzt kommen würde.
»Hör zu, ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich habe eine Möglichkeit für dich. In Seattle. Ein Job, der dir helfen könnte, wieder auf die Beine zu kommen.«
Ich schloss die Augen. Da war es. Die Chance, die ich mir eigentlich gewünscht hatte. Die Chance, meine Karriere zu retten, mein altes Leben zurückzubekommen. Aber war sie das wirklich?
Und warum fühlte es sich nicht mehr wie das an, was ich wollte?
Ich sah zu Hattie, die noch immer dort stand, wo ich sie stehengelassen hatte. Als spürte sie meinen Blick, drehte sie sich zu mir um und sah mit einem Lächeln zu mir.
Tief atmete ich durch.
»Sam?« Mike war nie einer von der geduldigen Sorte gewesen.
Mein Herz schlug schwer in der Brust. Seattle war das, was ich immer gewollt hatte. Eigentlich.
»Ich muss darüber nachdenken«, sagte ich schließlich.
Ein Teil von mir wusste, dass das nicht die Antwort war, die er erwartet hatte. Und vielleicht war es auch nicht die, die ich selbst erwartet hatte.
Aber es war die Wahrheit.

Kapitel 7

Hattie

Die Luft am See war mit der untergehenden Sonne merklich kühler geworden, und die Lichter des Lake Star spiegelten sich auf der dunklen Wasseroberfläche. Ich zog meine Jacke enger um mich, während ich mit Sam am Ufer entlangschlenderte. Das Abendessen war vorbei, und doch war keiner von uns bereit, den Abend zu beenden. Irgendetwas lag in der Luft. Etwas, das sich neu und aufregend anfühlte, aber auch ein wenig beängstigend.
Sam war ruhiger als vorher. Den ganzen Nachmittag über hatte er mit einer Leichtigkeit gesprochen, die mich hatte lächeln lassen. Doch seit diesem Anruf, den er bekommen hatte, wirkte er nachdenklich. Zwar hatten wir beim Essen angeregt miteinander geplaudert, aber jetzt hier bei unserem Spaziergang war er fast vollständig verstummt. Ich hätte ihn fragen können, was los war, traute mich jedoch nicht. Dazu war das mit uns, diese Bekanntschaft, noch zu frisch, und ich wollte sie nicht gefährden, indem ich eine Grenze überschritt.
»Alles in Ordnung?«, wagte ich mich schließlich zaghaft vor, als ich das Schweigen zwischen uns nicht länger aushielt.
Sam ließ sich Zeit mit der Antwort. Wir waren an einem kleinen Bootssteg angekommen, der ein Stück in den See hinausragte. Er blieb stehen, lehnte sich gegen das Geländer und sah hinaus auf das Wasser, das leise gegen das Holz plätscherte.
»Dieser Anruf vorhin. Das war mein ehemaliger Agent aus Seattle«, sagte er schließlich. »Er hat mir einen Job angeboten.«
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, doch in den Taschen meiner Jacke krallten sich meine Hände in das Innenfutter. »Das klingt doch gut«, antwortete ich langsam, während ich mich neben ihn stellte. »Ist das nicht das, worauf du gehofft hast?«
Er lachte leise. Nach unserer gemeinsamen, unbeschwerten Zeit hatte ich mich so an den Klang gewöhnt, dass ich sofort erkannte, dass dies kein fröhliches Lachen war. »Das dachte ich auch. Bis vor ein paar Tagen hätte ich ohne nachzudenken zugesagt.«
»Und jetzt?« Ich wagte es nicht, ihn anzusehen. Stattdessen ließ ich meinen Blick über das ruhige Wasser schweifen, das sich in sanften Wellen am Ufer brach.
»Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.«
Mein Magen zog sich zusammen. Wir hatten uns doch gerade erst kennengelernt. Sollte es das etwa schon gewesen sein?
»Oaks Harbor ist schön, Hattie«, sprach er leise weiter. »Aber ich bin nicht sicher, ob ich bleiben werde.«
»Musst du das denn jetzt entscheiden?« Ich gab mir einen Ruck und drehte mich endlich zu ihm um. »Musst du wirklich jetzt wissen, ob du gehst oder bleibst?«
Seine Augen trafen meine, und für einen Moment schien die Welt um uns stillzustehen. »Was meinst du?«
Ich holte tief Luft. »Vielleicht … musst du dich gar nicht zwischen Seattle und Oaks Harbor entscheiden. Vielleicht musst du nur wissen, was sich jetzt gerade richtig anfühlt.«
Einen Moment lang sagte er nichts, sondern blickte nur auf mich hinunter. Dann fuhr er sich durch die Haare und lächelte schwach. »Und was fühlt sich für dich gerade richtig an?«
Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich wusste nicht, was die Zukunft bringen würde. Ich wusste nicht, ob Sam in einem Monat noch hier sein würde. Aber ich wusste, dass er jetzt hier war. Dass er mich ansah, als wäre ich jemand, der für ihn zählte. Dass ich mich seit langer Zeit zum ersten Mal nicht allein fühlte.
Also trat ich näher zu ihm, bis sich unsere Schuhspitzen berührten. »Das hier.« Damit überbrückte ich die letzte Distanz zwischen uns, stellte mich auf die Zehenspitzen und kam ihm mit meinem Gesicht langsam immer näher.
Sam blinzelte überrascht, dann verzog sich sein Mund zu einem echten, warmen Lächeln. »Dann bleibe ich wohl vorerst hier«, murmelte er, bevor er meine Lippen mit seinen verschloss.
Mein Atem stockte für einen Moment, dann erwachte ich aus meiner Starre und erwiderte den Kuss, schließlich hatte ich ihn initiiert. Und er enttäuschte nicht. Minutenlang verloren wir uns im anderen, blendeten unsere Umgebung aus und erforschten uns gegenseitig. Meine Hände krallten sich in Sams Jacke, während er die Arme um mich schlang und noch ein bisschen enger an sich heranzog. Mit der Zungenspitze klopfte er vorsichtig gegen meine Lippen und ich gewährte ihm bereitwillig Einlass. Unseren Größenunterschied überbrückte Sam, indem er meine Hände umgriff, sie um seinen Hals legte und mich anschließend anhob, nur um mich auf dem Geländer des Stegs abzusetzen. Kurz darauf hatte ich meine Beine um seine Hüfte geschlungen, während mein Herz davonzugaloppieren drohte.
»Hi«, murmelte er an meinem Mund, als er sich kurz löste, um Atem zu holen.
»Hi«, erwiderte ich ebenso leise und konnte nichts gegen das Grinsen machen, das sich in meinem Gesicht ausbreitete.
Es war keine große Liebeserklärung. Kein dramatisches Versprechen für die Ewigkeit. Aber es war ehrlich. Echt. Und genau das, worauf ich gehofft hatte.
Als Sam erneut seinen Mund auf meinen legte, wusste ich, dass dieses Kapitel unserer Geschichte noch lange nicht vorbei war. Es hatte gerade erst angefangen.


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